In arte voluptas - Medallien und Abzeichen der Schlaraffia

Aus MGM Münzlexikon

In arte voluptas
Medaillen und Abzeichen der Schlaraffia
Achim Feldmann


Der Münzgalerie München ist es kürzlich gelungen, aus einem Nachlass eine mit vielen Abzeichen besteckte Mütze, einen 'Schlaraffen-Pass' und eine 'Stammrolle der Schlaraffenreyche in Deutschland' zu erwerben, die zunächst etwas ratlose Gesichter hinterließen. Uns fiel dann ein, dass in einer vergessenen Ecke noch einige Abzeichen schlummerten, an die wir uns bisher nicht so recht rangetraut hatten. Mit dem Begriff 'Schlaraffia' hatte niemand etwas anfangen können. Erst nach einigen Wochen des 'Googelns' und Recherchierens nahm die Sache langsam Konturen an, die Ergebnisse zeigen wir hier. Bei den folgenden Ausführungen kann es sich - bei einem Nicht-Schlaraffen als Autor - natürlich nur um Annäherungen an Wesen und Zweck des Bundes handeln. Ich hoffe jedoch, trotzdem den Geist der Schlaraffia einigermaßen verdeutlichen zu können.

Was ist Schlaraffia?
“Wer erinnert sich nicht an seine Schulzeit, wenn in Pausen Rollenspiele zu Lasten der Lehrer unter Überzeichnung von Eigenarten auf Kosten derselben zur allgemeinen Erheiterung in der Schülerschaft führten. Ganz ähnlich ist es beim schlaraffischen Spiel, nur dass es hier um die Überzeichnung des historischen Herrschaftsverhältnisses im Rahmen eines Ritterspieles geht, dessen mehr oder weniger festgelegter Ablauf einen roten Faden bildet, an dem es persifliert immer wieder künstlerische und humoristische Perlen aufzureihen gilt.”[1] Der Name 'Schlaraffia' leitet sich vom mittelalterlichen Wort 'sluraff' ab, was so viel wie 'Faulenzer' bedeutet. Das Schlaraffenland im Märchen bezeichnete ein fingiertes Land lächerlicher Vollkommenheit, in dem den Menschen ohne jede Anstrengung alle materiellen Güter und Genüsse zuteil werden. Dort sollen Milch und Honig fließen, statt Steinen Käse herumliegen, die gebratenen Tauben direkt in den Mund fliegen und die Bratwürste auf den Zäunen wachsen. Die einzige Anstrengung, die man leisten müsse, um in das Schlaraffenland zu gelangen, ist, sich durch einen Berg Griesbrei hindurchzuessen. Faulheit sei dort höchste Tugend, der Fleiß das schlimmste Laster. Das Märchen hat seine Analogien in fast allen Nationen und ist wohl eher als Parodie auf die Vorstellung von den paradisischen Zuständen der Urzeit aufzufassen.[2] Bereits die Alten Griechen hatten ähnliche Vorstellungen, seit dem Mittelalter wurden sie in den romanischen Ländern in vielen Fassungen in Versform erzählt. Von Frankreich aus scheint sich das Märchen im 16. Jahrhundert in Deutschland eingebürgert zu haben.
'Schlaraffia' hat mit dem Märchen direkt jedoch nichts zu tun. Hierbei handelt es sich um eine Gemeinschaft von Männern, “die in gleichgesinntem Streben die Pflege der Kunst und des Humors unter gewissenhafter Beobachtung eines gebotenen Zeremonials bezweckt, und deren Hauptgrundsatz die Hochhaltung der Freundschaft ist”, wie es in den Statuten (§ 1 des 'Schlaraffen-Spiegels') heißt. Im Winterhalbjahr treffen sich die Schlaraffen einmal pro Woche, um gemeinsam Freude zu haben und ihren Geist zu schärfen. Obwohl sie Ritternamen führen, sind sie kein Ritterorden und gewiss kein esoterischer Mysterienbund. Hier treffen sich vielmehr vielseitig interessierte Mitglieder, um das Rollenspiel einer liebenswerten Ritterzeit zu spielen, Vorträgen und Vorführungen zuzusehen und so die Probleme des Alltags zu relativieren.
Der Wahlspruch der Vereinigung lautet 'In arte voluptas' (etwa: in der Kunst liegt Vergnügen). Mitglied können Männer aller gesellschaftlichen Schichten, Religionen oder ethnischer Herkunft werden ohne Ansehen von Person und Stellung. Die Schlaraffia verfolgt keine altruistischen Ziele wie etwa der Lions-Club oder Rotary International. Eine Verbindung zur Freimaurerei besteht nicht, und auch von Karnevalsvereinen und Faschingsclubs grenzen sich die Schlaraffen deutlich ab. Sie strebt im Allgemeinen nicht an die Öffentlichkeit und betreibt keine offene Mitgliederwerbung. Im Rahmen des schlaraffischen Ritterspiels kann jedes Mitglied die Anwesenden durch musikalische, dichterische, erzählerische, rezitatorische oder andere passende Beiträge erfreuen und unterhalten. Themen aus Parteipolitik und Religion, geschäftliche Belange oder schlüpfrige Männerwitze sind vollkommen unerwünscht. Ursprünglich waren nur Künstler Mitglieder, dies hat sich jedoch geändert. Heute bilden die Mitglieder der Schlaraffia einen Querschnitt durch alle bürgerlichen und künstlerischen Berufe. Da Geschäfts- und Berufswelt während der Sitzungen tabu sind, wissen die Meisten oft gar nicht, welchen Beruf der andere hat.[3]
Schlaraffisches Symbol für Weisheit, Humor und Tugend ist der Uhu. Dieser ist in der schlaraffischen Welt allgegenwärtig und taucht auch auf den Medaillen und Abzeichen immer wieder auf. Allgemein wird angenommen, dass dies als Sinnbild der Weisheit oder der Eulenspiegelei gedeutet werden müsse. Doch es war der reine Zufall - ein sehr lustiger Zufall obendrein -, der zu diesem Sinnbild führte. Ursprünglich war es ein in der fröhlichen Runde kreisender Trinkhumpen, der diesen Namen erhalten hatte (siehe Abbildung S. 5). Erst später wurde der Name des Humpens mit dem Vogel der Minerva in Beziehung gesetzt, und erst nachträglich wurde dann der Uhu in das Zentrum der schlaraffischen Bräuche und Anschauungen gerückt

Entstehung
Possenreißen und Narreteien wurden zu allen Zeiten und in allen Nationen der Welt getrieben, und seit dem Altertum hat es auch Vereinigungen gegeben, die dieses Possenreißen strukturiert, reglementiert und damit verstetigt haben. Diese traten natürlicherweise am häufigsten zur Karnevalszeit auf, aber durchaus nicht zwangsläufig und immer. Im Laufe der Geschichte sind zum Beispiel eine Narrengesellschaft im antiken Athen, Sodalitäten bei den alten Römern, die Geckengesellschaft in Kleve (14. Jh.), die 'Narrenmutter' zu Dijon (15. Jh.), die 'Gesellschaft der Hörnerträger' in Evreux und Rouen (15./16. Jh.), das 'Königreich Bazoche' in Frankreich (16. Jh.), die 'Babinische Republik' in Polen (16. Jh.), das 'Regiment der Calotte' in Frankreich (Anfang 18. Jh.) und der 'Mops-Orden' in Köln (Mitte 18. Jh.), schließlich die 'Ludlamshöhle' in Wien (Anfang 19. Jh.), die 'Grüne Insel' in Wien (Mitte 19. Jh.) und das 'Festordnende Comité' in Köln (gegr. 1823) bekannt geworden.[4] Dabei ist zu beachten, dass “man sich sehr täuschen würde, wenn man aus ihrem Namen schließen wollte, daß sie selbst Narren vorstellen, oder eine Gesellschaft eigentlicher Narren aufzurichten beabsichtigt hätten; sondern daß ihre Urheber und Stifter kluge und witzige Köpfe waren, welche mittelst der Satire die Narrheit in der Welt mindern, die Menschen gescheiter zu machen gedachten.”[5]
In dieser Tradition steht auch die Schlaraffia. Gegründet wurde sie im Jahre 1859 in Prag. Die Stadt war damals noch vollständig geprägt vom Deutschtum. Die Amtssprache war deutsch, die Straßen trugen nur deutsche Namen, auch die meisten Theater waren deutschsprachig. Die starke österreichische Garnison des Militärs und der Adel gaben den Ton an. Künstlern hingegen wurde die gesellschaftliche Anerkennung versagt. Sie organisierten sich stattdessen in eigenen Vereinen, um die Kunst zu pflegen. Aus diesen Künstlervereinen heraus hat sich die Schlaraffia entwickelt. Im Jahre 1918 hat ein 'Insider', der Ritter 'Zwilling' (Carl Ziegenhirt, Verlagsbuchhändler aus Leipzig, Herausgeber der Schlaraffia-Zeitschrift und der 'Allschlaraffischen Stammrolle'), die Gründungsgeschichte folgendermaßen erläutert: “Die Entstehung des Bundes und seines Sinnbildes ist einem Zufalle zu verdanken. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts stand das Deutsche Landestheater in Prag unter dem Direktor [Franz] Thomé in vollster Blüte, (...). Zu der Zeit bestand in Prag ein Verein von Künstlern und Kunstfreunden, der sich 'Arcadia' nannte, in dem aber neben hervorragenden Vertretern der Kunst und ihrer Verehrer leider auch das Protzentum zahlreich vertreten war. Als eines Tages, im Frühjahre 1859, das Mitglied Thomé einen der Seinen, welcher mit irdischen Gütern nicht überreich gesegnet war, zur Aufnahme meldete, kam es zu Erörterungen, in deren Verlauf das Wort Proletarier fiel.
Entrüstet ob solcher Beleidigung eines seiner Angehörigen meldete Thomé seinen Austritt aus der Arcadia an, welchem sich die Mitglieder des Theaters sofort anschlossen. Außer der Arcadia bestand zu derselben Zeit in Prag eine Gesellschaft von Künstlern und Kunstfreunden, die weder Namen noch Statuten besaß, sich aber allabendlich in zwangloser Weise an fröhlicher Tafelrunde in Freunds Gasthaus zusammenfand. Direktor Thomé und die Mehrzahl seiner Mitglieder gehörten diesem Kreise an. Der Vorgang in der Arcadia rief in dieser fröhlichen Tafelrunde große Entrüstung hervor, und unter Jubel wurde beschlossen, die namenlose Vereinigung von nun an 'Proletarierklub' zu nennen und sich dementsprechende Namen, ihrem Berufe oder ihrem Steckenpferd entnommen, beizulegen - z. B. Bassist [Albert] Eilers: Baßproletarier usw. In dieser Gesellschaft sprudelte es von Witz und Humor, und es ist nicht verwunderlich, wenn an den Abenden der Zusammenkunft reichlich für künstlerisch inspirierte Unterhaltung gesorgt ward, war doch die Mehrzahl der Angehörigen Mitglieder des Landestheaters oder seines Orchesters. (...) Die ein Instrument zu behandeln wußten, spielten auf, andere, denen Apollo die Macht des Gesanges verliehen, ließen sich vernehmen, und die vom rezitierenden Schauspiel gaben deklamatorische Vorträge zum besten. (...) In harmloser Neckerei wurden Spitznamen erfunden, die den Betreffenden für alle Zeiten geblieben sind, Ämter und Würden verliehen, die nur für den Augenblick von Bedeutung zu sein schienen und dennoch den Grund für spätere Zeiten legten.”
[6] Die spontane Namensgebung 'Proletarierklub' war allerdings in den damaligen Zeiten politisch hoch brisant. Die gescheiterte Revolution von 1848 lag gerade erst ein Jahrzehnt zurück, der Adel hielt das Heft in der Donaumonarchie wieder fest in der Hand. Dieser Name hätte beim Antrag zur amtlichen Genehmigung des Vereins mit Sicherheit politischen Ärger eingebracht.
“Die ursprüngliche Begeisterung ließ bald nach, die Gesellschaftsabende wurden spärlicher, die Zahl der Teilnehmer schrumpfte zusammen; da forderte der Opernsänger Albert Eilers die treuen Gesinnungsgenossen am 10. Oktober 1859 auf, sich mit Hand und Wort zu verpflichten, treu und fest zusammenzuhalten, und auf Vorschlag des Mitgliedes [Carl] Tobisch wurde dem somit neuerdings gegründeten Verein, der neben der Pflege der Kunst und des Humors die Freundschaft und Bruderliebe auf sein Banner schrieb, der Name 'Schlaraffia' gegeben.”[7] Der neue Name klang so unverfänglich wie das Märchen von dem utopischen Genießerland. Ganz so unschuldig war jedoch auch dieser Name nicht, denn die Begriffe 'Schlaraffia' oder 'Schlaraffenland' dienten in der damaligen Zeit als Tarnbezeichnungen für die im Untergrund weiter wirkende Demokratiebewegung.[8] Vielleicht spielte bei der Namensgebung aber auch der Umstand eine Rolle, dass bei den Zusammenkünften der Schlaraffen statt materieller Genüsse in erster Linie geistige Genüsse im Mittelpunkt standen, wodurch ein 'Schlaraffenland des Geistes' entstand.[9]
Weiter führt Ritter 'Zwilling' aus: “Da die Eitelkeiten und Lächerlichkeiten der Welt durch einen feierlichen und närrischen Kult verspottet wurden, so erwuchs ein höchst prunkvolles Ceremonial, über dessen Befolgung mit äußerster Strenge gewacht wurde. Mittelalterliche Art und Sprechweise bildeten sich aus und bedingten eine entsprechende Zeitbenennung, so daß das Gründungsjahr mit 1559 bezeichnet wurde. Zu den andersgearteten Bezeichnungen von Dingen und Handlungen gesellten sich besondere Ausdrücke für den Gruß, für Beifall, Zutrinken usw. Ganz von selbst kam dazu ein komisch-feierlich stolzierendes Rittertum, sich spreizender Hofadel und Amtsdünkel, unfehlbare Gewaltherrschaft des Vorsitzenden und demütig ehrfurchtsvoller Gehorsam der sonstigen Mitglieder. (...) Wohl war bei der Gründung noch nicht an den weltumspannenden Bund zu denken, und die Beteiligten dachten nicht daran, daß die Eingebung einer fröhlichen Laune sie alle überleben und zu so bedeutender Größe gelangen werde, (...).”[10]
Enttäuscht von der Restauration nach 1848 und verbittert über den Ämter- und Adelsdünkel in Österreich persiflierten die Schlaraffen die hohlen Formen der damaligen 'feinen Gesellschaft' - eine Revolte des Geistes gegen erstarrte gesellschaftliche Konventionen und Zwänge. So betteten sie in ihre Zusammenkünfte ein Rollenspiel ein, in dem vordergründig das adlige mittelalterliche Rittertum, in Wirklichkeit aber die herrschende Adelsclique parodiert wurde. Laufend weiter entwickelt nahm und nimmt das Spiel außer dem Spaßfaktor bis heute jegliches selbstgerechte und aufgeblasene Gehabe von Obrigkeiten und selbsternannten Autoritäten aufs Korn.
Der Gedanke, sich mit Ritterbrauchtum zu umgeben, war auch damals schon nicht neu, sondern hatte bereits Vorläufer gehabt.[11] Zumeist waren es auch hier Künstlerkreise wie bei der 'Leimsudia' in Stuttgart und bei dem 'Bund der Krokodile' in München oder Ritterschaften wie die 'Schwadronei der Pappenheimer' in München oder die 'Pegnitzritter' in Nürnberg. Die oben bereits genannte Gesellschaft der 'Ludlamshöhle' in Wien, die von 1819 bis 1826 bestand, kann man fast als Vorläufer der Schlaraffia ansehen; viele ihrer Gebräuche und Institutionen tauchen später bei der Schlaraffia fast identisch wieder auf, vor allem die Namengebung der einzelnen Mitglieder und die eigene Zeitrechnung. Da der österreichische Staat in der Zeit des Vormärz hinter ihrem satirischen Treiben staatszersetzende Umtriebe am Werke gesehen hatte, war die 'Ludlamshöhle' schließlich von der Polizei zerschlagen und verboten worden. 1949 schlossen sich in Wien mehrere Schriftsteller zu einer Vereinigung zusammen, die den Namen 'Neue Ludlamshöhle' trug. Diese hatte bis 1972 Bestand.

Verbreitung
Die neue Gesellschaft 'Schlaraffia' in Prag entwickelte sich recht schnell, sie feierte große Künstlerfeste und führte auch Benefizveranstaltungen durch. Anfangs war sie statutengemäß zur einen Hälfte aus Künstlern, zur anderen aus 'Laien' zusammengesetzt. Diese Regelung wurde aber bald revidiert, die Gemeinschaft auch anderen Berufen geöffnet. Dann änderte die Schlaraffia ihren Kurs, zog sich nach und nach aus der Öffentlichkeit zurück. Die Künstlerfeste wurden eingestellt, die großen Auftritte seltener. Aber weiterhin gab es starken Mitgliederzuwachs. Die Prager Idee verbreitete sich bald in weiteren Städten, wo Theaterleute aus Prag neue Engagements fanden. Diese gründeten dort neue Schlaraffenrunden, deren Spiel sich an den Gepflogenheiten der 'Praga' ausrichtete.
Am 24. Oktober 1865 gründete der Ritter 'Plato der Griechische Bummler' (Prof. Eduard Schmidt-Weißenfels, 1833-1893), der nach Berlin gezogen war, dort einen ersten Ableger der Schlaraffia. Örtliche Gruppen der Schlaraffia in anderen Städten werden von Schlaraffen bis heute 'Reyche' genannt. Am 23. August 1872 wurde die dritte Schlaraffia in Leipzig aus der Taufe gehoben. 1874 wurde dort die erste Zeitschrift gegründet, die den Namen 'Der Schlaraffia Zeyttungen' erhielt und als 'Amtsblatt' aller Schlaraffenreyche diente. Bis heute bildet die Zeitschrift - die zwischenzeitlich unter den Namen 'Deutsche Schlaraffen-Zeitung', 'Uhufunken' und 'Die Zeyttungen der Schlaraffenreyche in Deutschland (und Österreich)' erschien - das Bindeglied zwischen den einzelnen Reychen. Am 26./27. März 1876 fand in Leipzig die erste Generalversammlung ('Concil') statt. Auf diesem Concil wurde die erste Gesamtsatzung beschlossen, derzufolge alle Schlaraffenreyche zusammen den Bund 'Allschlaraffia' bilden. Damals gab es vier Reyche mit 189 Rittern. Anscheinend hat es harte Verhandlungen gegeben, denn Berlin und Leipzig hatten zunächst eigene Gebräuche und Statuten, auf die sie dann um der Einheit der Gesamtidee willen verzichteten[12]. Prag führte seit dieser Zeit die Bezeichnung 'Allmutter'. Seit 1873 bestand auch in Graz ein eigenes Reych, 1876 folgte Breslau, 1877 Nordhausen, 1878 Brünn (Böhmen) und Köln, dann in den folgenden Jahren Ödenburg (Ungarn), Amsterdam (Niederlande), Stuttgart, Regensburg, Linz und Schönau (Böhmen), am 27. März 1880 München, am 2. Dezember 1880 Wien. Die Idee zündete anscheinend überall, so verbreitete sich die Schlaraffia-Bewegung über ganz Deutschland und Österreich sowie deutschsprachige Gemeinden im damaligen Österreich-Ungarn, in der Schweiz, in Polen, im Baltikum und in Rumänien. Im Jahr 1880 wurden 13, im Jahre 1881 ebenfalls 13, 1882 neun Reyche gegründet. Die einzelnen Reyche wurden - und werden bis heute - nach der Reihenfolge ihrer Gründung durchnummeriert. So trägt Prag natürlich die Nummer 1, Köln die Nummer 8, München die 15, Hannover die 20, Hamburg 36, Mainz 45, Aachen 94, Ravensberg 120, Schwäbisch Gmünd 246 und Hameln 336. Mit deutschen Kaufleuten und Diplomaten gelangte die Schlaraffia-Idee dann auch in andere Länder und Erdteile, vor allem in die USA. Die erste Schlaraffia außerhalb des damaligen deutschsprachigen Raumes gründete sich am 9. Januar 1879 in Amsterdam, am 26. Januar 1884 kam es erstmals außerhalb Europas in San Francisco zu einer Reychsgründung, am 15. März desselben Jahre auch in Rotterdam, am 15. November 1884 in Milwaukee, 1885 in New York und London, 1888 in Chicago, 1890 Pola (Italien) und Newark (USA), 1891 St. Louis, 1892 Antwerpen, schließlich ab 1893 Cincinnati, Brooklyn, Philadelphia, Jersey, Cleveland, New Haven, Boston, Buffalo, Washington, Denver und 1914 sogar Shanghai. Alexandria (Ägypten, 1888) und Auckland (Australien, 1889) bestanden jeweils nur sehr kurz (weniger als zwei Jahre).
Wien war erst relativ spät dazugestoßen. Dies hatte spezielle Gründe gehabt: Eine Nachfolgerin der 'Ludlamshöhle' in Wien war die Vereinigung 'Grüne Insel', die 1855 gegründet wurde und bis 1948 Bestand hatte. Auch hier hat man die scherzhafte Ritterform als Rahmen eingeführt. Hierin war unter dem Wahlspruch 'Freundschaft, Kunst und Menschlichkeit' ein großer Teil der Kunstwelt vereinigt. Diese Gesellschaft war zunächst ein hemmender Faktor, der die Ausbreitung der Schlaraffia nach Wien erschwert hat[13]. Nach der Übersiedlung des Urschlaraffen 'Höllenstein das Tausendguldenkraut' (Conrad Adolph Hallenstein, 1833-1892) im Jahre 1871 von Prag nach Wien für ein Engagement am Hoftheater plante dieser, auch dort ein neues Schlaraffenreych zu gründen. Dies stieß jedoch auf Schwierigkeiten, da seine Zielgruppe eben in der 'Grünen Insel' vereinigt war. Hallenstein trat zunächst ebenfalls dieser Vereinigung bei; erst 1880 konnte er mit Hilfe einiger Ritter der 'Grünen Insel' dann die 'Vindobona' als bereits 24. Schlaraffenreych ins Leben rufen. Diese Gründung hat dann der weiteren Verbreitung in Österreich den Boden bereitet. In Österreich-Ungarn waren die Schlaraffen anfangs einigen Anfeindungen ausgesetzt, da die Außenwelt Sinn und Struktur der neuen Gesellschaft nicht verstand und dahinter - wie bei der 'Ludlamshöhle' - unpatriotische oder sogar staatsfeindliche Motive vermutete, bis es dem Ritter 'Comité das Reychskind' (Edgar Spiegl von Thurnsee, 1839-1908, Präsident des Journalisten- und Schriftstellerverbandes 'Concordia') gelang, in einer Audienz bei Kaiser Franz Josef (reg. 1848-1916) die Vorbehalte auszuräumen. Auch der Wahlspruch der Vereinigung 'In arte voluptas' hatte für Anfeindungen gesorgt, da man 'voluptas' mit 'Wolllust' übersetzte und dies dann für einige giftige Glossen nutzte. Von kirchlicher Seite beider Konfessionen wurden einige Bräuche der Schlaraffia, etwa die Verbeugung vor dem Uhu beim Betreten des Vereinslokals oder der altarartige Aufbau des erhöhten Sitzes des Uhu, als Entweihung und Verunglimpfung christlicher Bräuche angesehen.
1895 erfolgte die behördliche Genehmigung des internationalen Verbandes 'Allschlaraffia'. So eng auch die einzelnen Schlaraffenreyche bis dahin miteinander verbunden waren, bestand der Verband der Form nach erst ab diesem Datum, jetzt auch als juristische Person.
Bei den Benennungen der Neugründungen von Reychen wurde stets ein altertümlicher - ritterzeitgemäßer - Name gewählt. Einfach den Städtenamen zu übernehmen wäre zu 'profan' gewesen. Zumeist hat man den lateinischen Städtenamen benutzt, manche dieser Namen sind allerdings recht willkürlich latinisiert. Erst bei den jüngeren Reychen sind Städtenamen mit deutschen Bezeichnungen - analog zur bei den Vereinstreffen benutzten Sprache eines altertümlichen Deutsch - häufiger geworden[14]. Jedes Schlaraffenreych ist jeweils ein eigenständiger eingetragener Verein.

  1. www.lulu311.de, die Internetseite der Schlaraffia Nr. 311 "Am Hohenwaldeck" (Schliersee i. Obb.), aufgerufen am 15.3.2016.
  2. Siehe Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Bd. 17, S. 831-832.
  3. Vgl. Biedermann: Logen, Clubs und Bruderschaften, S. 338.
  4. Vgl. Flögel/Ebeling: Geschichte des Grotesk-Komischen, S. 351-396 und Zwilling: Schlaraffia, S. 65-66.
  5. Flögel/Ebeling: Geschichte des Grotesk-Komischen, S. 381.
  6. Zwilling: Schlaraffia, S. 11-12.
  7. Zwilling: Schlaraffia, S. 12-13. Der Rittername des Schlaraffen Carl Tobisch lautete später 'Gotthold der Elfer’.
  8. Vgl. www.schlaraffia.org/ueber-schlaraffia/was-ist-schlaraffia, aufgerufen am 4.6.2016. Ludwig Kalisch (1814-1882), Mitglied der provisorischen demokratischen Regierung der Pfalz 1849, hatte bereits 1844 in seinem Buch 'Schlagschatten’ mit dem Spottgedicht 'Aus dem Schlaraffenlande’, in dem er sich boshaft-satirisch mit den Zuständen in Deutschland vor der 1848er-Revolution auseinandergesetzt hatte, dazu den Anstoß gegeben.
  9. Vgl. Biedermann: Logen, Clubs und Bruderschaften, S. 337.
  10. Zwilling: Schlaraffia, S. 14-15.
  11. Vgl. Meininghaus: Schlaraffia, S. 190.
  12. Vgl. Zwilling: Schlaraffia, S. 23.
  13. Vgl. Zwilling: Schlaraffia, S. 66.
  14. Zum Beispiel Schlaraffia 217 An der Pruggen (Bruck a. d. Mur/ Steiermark), 296 Auf der Mauer (Mauer bei Wien), 298 Am Werden�fels (Garmisch-Partenkirchen), 304 An der Meyenburg (Schweinfurt), 305 Landes-aue (Landau), 311 Am Hohenwaldeck (Schliersee i. Obb.), 333 Under Teck (Kirchheim u. Teck), 375 Am schönen Bronnen (Wien-Schönbrunn), 382 Bey den sieben Schwaben (Memmingen), 384 Ob der Isar (München 2), 399 Zu den Teutschherren (Bad Mergentheim), 409 Hohenschramberg (Schramberg/ Schwarzwald).